Buddhismus und Ökologie
Ein Essay zum Verhältnis von Buddhismus und Ökologie von Derk Janßen
Buddhismus wird von vielen Menschen als eine Religion wahrgenommen, die sich auch „nicht- menschlichem Leben“, man könnte auch sagen „der Natur“ gegenüber respektvoll und dankbar erweist und die die Verpflichtungen der Menschen ihrer natürlichen Umgebung gegenüber anerkennt. Diese Einschätzung ist richtig. „Leben“ meint im buddhistischen Verständnis alle menschlichen und alle natürlichen Phänomene. Beide sind untrennbar und eins. Nichiren Daishonin schreibt:
„Leben umschließt in jedem einzelnen Augenblick Körper wie Geist, Selbst und Umgebung aller fühlenden Wesen, ... ebenso wie die aller nichtfühlenden Wesen, Pflanzen, Himmel und Erde, bis hin zum winzigsten Staubkörnchen. Leben durchdringt in jedem Augenblick das ganze Universum und zeigt sich durch alle Phänomene.“
Diese Beschreibung „des Lebens“ stammt aus dem Japan des 13. Jahrhunderts. Kaum jemand wird bestreiten, daß die tatsächlichen Anschauungen über „das Leben“ in weiten Teilen der Bevölkerung in den westlichen Gesellschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts - etwa in Europa - anders aussehen.
Die allgemeinen Entwicklungen der Anschauungen über die Natur in Europa lassen sich etwa so skizzieren:
Im Zuge der in England einsetzenden Industrialisierung, kam es schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Ausbeutung der Natur zu wirtschaftlichen Zwecken. Die Natur wurde in diesem Prozeß der Industrialisierung, der sich bis Ende des 19. Jahrhunderts über ganz Europa ausgebreitet hatte, als eine Art „Rohstofflager“ begriffen und sie wurde in diesem Prozeß - wie einige moderne Kommentatoren sagen - „vergegenständlicht“ oder auch „verdinglicht“. Die Natur wurde zu einer Sache. Sie transformierte sich in diesem Prozeß von einer zu schützenden „Wohnung des Menschen“ (Dewey) - als die sie noch weit in das 20. Jahrhundert hinein von einigen sensiblen und kritischen Sozialphilosophen wie Tsunesaburo Makiguchi oder John Dewey begriffen wurde - hin zu einem ökonomischem Ausbeutungsobjekt. Die dadurch einsetzende „Entfremdung“ des Menschen von der Natur wurde durch eine weitere Entwicklung befördert, die mit den sozialen Veränderungen im Zuge der Industrialisierung eng verbunden war, der sogenannten „Verstädterung“ (Urbanisierung) der modernen Lebensform. Viele Menschen zogen vom Land in die Stadt, um Arbeit zu suchen und zu finden, und sie schufen damit andere und neue, eben städtische Lebensräume.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert kam zu diesen industriellen Entwicklungen, die durch neue technische Erfindungen (Eisenbahn, Elektrizität, Telegraph, Automobil, Flugzeug, etc.) zugleich immer mehr an Dynamik gewannen, die enorme Destruktivität der modernen technischen Kriegsführung hinzu. Die beiden Weltkriege fügten nicht nur menschlichem Leben große und noch heute nachwirkende Wunden zu, sondern - was häufig übersehen wird - auch nicht- menschlichem Leben, das heißt „der Natur“. Man denke an die vielen zerstörten Natur- und Kulturlandschaften, die sich nur langsam regenerieren.
Erst in der Mitte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begannen die Menschen allmählich umzudenken. Dies geschah auf der Grundlage eines im Nachkriegseuropa erwirtschafteten „hohen Lebensstandards“. Etwa Anfang der 70er Jahre entstand in Westeuropa die sogenannte „ökologische Bewegung“. Aus ihr ergaben sich neue Fragen, Forschungsgebiete und soziale Einrichtungen, deren Arbeit und Wachstum im Laufe der Zeit zu dem führte, was heute allgemein „Umweltbewußtsein“ oder „Nachhaltigkeitsbewußtsein“ genannt wird; gemeint ist damit ein Bewußtsein, das von einer wechselseitigen „Partnerschaft“ von Mensch und Natur ausgeht und ein nur einseitiges Ausbeutungsverhältnis ablehnt.
Beginnend mit dem Bericht über die „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome von 1974 und spätestens mit der großen UN- Umweltkonferenz in Rio de Janeiro 1992 wurde das Thema „Ökologie“ dann immer mehr auf die internationale Agenda gehoben und heute existieren in vielen europäischen Ländern eigene „Umweltministerien“ und die UN hat ein „Umweltprogramm“ mit Sitz in Nairobi / Nigeria eingerichtet. Auch viele internationale Nichtregierungsorganisationen (NGOs) haben sich den Schutz der Natur und des Lebens auf der Erde überhaupt zur Aufgabe gemacht.
Aus diesem Überblick über die Entwicklungen der letzten zweihundert Jahre in Europa wird deutlich, daß es keinesfalls selbstverständlich ist, daß Fragen der „Ökologie“ und eines partnerschaftlichen Verhältnisses von Mensch und Natur diskutiert werden und auf der gesellschaftlichen Tagesordnung stehen. Tatsächlich ist diese Diskussion nach den vielen Umwälzungen der Lebensweise in den vergangenen zwei Jahrhunderten relativ jung und sie ist - im weiten Überblick gesehen - immer noch neu.
Doch was hat dies alles mit Buddhismus zu tun? Geht es nicht darum, auf dem gegenwärtig eingeschlagenen Weg weiterzugehen und weitere staatlich und nichtstaatliche Einrichtungen aufzubauen, die die Natur schützen? Ist es nicht ganz unangemessen zu glauben, eine bestimmte religiöse Anschauung habe in Anbetracht der offensichtlichen Interessen aller Menschen an der Sicherung des Lebens auf dem Planten Erde ein Privileg der Problemlösung? Geht es bei allem hier Besprochenen nicht vielmehr um eine Zusammenarbeit von Menschen aller Religionen und ganz unterschiedlicher Überzeugungen?
All diese Fragen sind berechtigt und ihre Berechtigung macht es notwendig, in der weiteren Diskussion des Themas „Buddhismus und Ökologie“ umsichtig und behutsam vorzugehen.
Vielleicht ist es zunächst wichtig, darauf hinzuweisen, daß die Industrialisierung heute nahezu alle Länder der Erde erfaßt hat. Das ist ein Umstand der auch mit dem Schlagwort Globalisierung verbunden wird. Einige Änderungen in der Ausrichtung dieses Prozesses hin auf neue Formen der Erwerbstätigkeit, haben in den letzten zwei Jahrzehnten zudem dazu geführt, daß heute in manchen Ländern neben „Industriegesellschaft“ auch von einer „Dienstleistungsgesellschaft“ und neuerdings auch von einer „Informations- oder Wissensgesellschaft“ gesprochen wird.
All diesen Phänomenen ist jedoch gemeinsam, daß sie ihren Ausgang und Ursprung in der westlichen Hemisphäre der Erdkugel genommen haben. So ist etwa die Industrialisierung, wie schon erläutert, von England aus auf den europäischen und den nordamerikanischen Kontinent gewandert und hat sich dann von dort aus im Zuge von Imperialismus und Kolonialismus (und nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge einer „Entwicklungspolitik“) in alle Regionen der Welt verbreitetet. Der Prozeß der Industrialisierung ist demnach ein Produkt, das vom Westen her seinen Weg in die übrigen Teile der Erde gefunden hat.
Bei diesem Stand ist es nicht verwunderlich, daß auch das Phänomen des Weltkriegs, das ja mit dem Prozeß der Industrialisierung eng verbunden ist, mit dem Ersten Weltkrieg (1914-1918) erstmalig im Westen - in Europa - aufgetreten ist. Wäre es dem Westen nach dem Ersten Weltkrieg gelungen eine bleibende und stabile Friedensordnung - in Europa - aufzubauen, so wäre der Erde auch der Zweite Weltkrieg (1939-1945) als erneuter die ganze Welt umspannender Konflikt erspart geblieben. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es, eine feste durch internationales Recht (UN- Charta, UN- Menschenrechtserklärung, etc.) gestützte Friedensordnung in West und Ost aufzubauen.
Nun ist der Buddhismus eine östliche Religion und er vermittelt eine östliche Religiösität, die historisch in ihrer Ausbreitung gesehen von Indien aus über China und Korea nach Japan gewandert ist. Auch ist der Buddhismus für seine Friedfertigkeit bekannt. Die weit verbreitete Auffassung, daß Buddhismus sich auch nicht- menschlichem Leben gegenüber dankbar und verbunden fühlt, wurde eingangs schon erwähnt.
Den oben gestellten kritischen Fragen zu dieser Untersuchung ist daher zunächst damit zu begegnen, daß sich im Buddhismus tatsächlich eine Anschauung „des Lebens“ zu Worte meldet, die in einem ganz umfassenden Sinne „neu“ ist und geradezu als Gegenposition zu gewissen Praktiken begriffen werden kann, die sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten im westlichen Industrialisierungs- und Gesellschaftsmodell durchgesetzt haben. Es geht in den vorliegenden Ausführungen demnach auch darum, einem „anderen Blick“ auf unterschiedliche Lebensfragen erst einmal Raum zu geben, bevor erneut innerhalb etablierter Denk- und Vorstellungsweisen weiter diskutiert wird. Die Notwendigkeit einer übergreifenden Zusammenarbeit vieler Menschen und Gruppierungen zur Lösung der globalen Umweltprobleme liegt dabei auf der Hand.
In seinem Dialog mit dem deutschen Pädagogen Josef Derbolav, „Auf der Suche nach einer neuen Humanität“ (1988), erläutert der Präsident der SGI, Daisaku Ikeda, unter dem Titel „Westliches und östliches Naturverständnis“ folgendes:
„In Beziehung zur Umwelt und zu den anderen Lebensformen kann der Humanismus zwei Haltungen annehmen: Er kann von der Voraussetzung ausgehen, daß allein menschliche Wesen in physischer und psychischer Hinsicht Rücksicht verdienen und daher alles andere in ihrer Umgebung, und natürlich auch alle anderen Geschöpfe, ihnen unterworfen sind ... . Ein Humanismus dieser Art ist selbstgerecht, aggressiv und gewalttätig.
Humanismus kann aber auch alles in seiner Umwelt und vor allem alle anderen Geschöpfe so verstehen, daß sie zur menschlichen Würde beitragen und daher Dankbarkeit und Mitgefühl verdienen. Ein Humanismus dieser Art ist harmonisch, friedliebend und offen. Obwohl beide Haltungen den Mitmenschen und dem ökologischen System gegenüber überall vorkommen, glaube ich doch, daß es Unterschiede der Nuancen und der Gewichtung bei den östlichen und westlichen Völkern gibt.“
In diesen Gedanken sind die praktischen Konsequenzen eines unterschiedlichen Naturverständnisses in West und Ost nur angedeutet. Sie seien hier zitiert, da sie für die vorliegenden Zwecke eine erste Vorstellung auf das Profil eines man könnte sagen „ökologischen Humanismus“ werfen, wie er von der östlichen Religion des Buddhismus vertreten wird.
Daß ein solcher ökologischer Humanismus „westlichem Denkern“ dabei nicht prinzipiell fremd ist, zeigt ein Blick etwa in die Schriften des amerikanischen Philosophen John Dewey. In seinem im Jahr 1900 erschienen auch außerhalb der USA beachteten Buch „Schule und Gesellschaft“ schreibt er im Zusammenhang mit den neuen Anforderungen an die Lernrealitäten der Elementarschule in der Industriegesellschaft folgendes:
„Eine Verbundenheit aller Wissenschaften kann in der Geographie gefunden werden. Die Bedeutung der Geographie ergibt sich daraus, dass sie die Erde als die dauerhafte Heimat der Beschäftigungen des Menschen darstellt. Die Welt, ohne ihre Beziehung zu den menschlichen Aktivitäten, ist weniger als eine Welt. Menschliche Betriebsamkeit und Errungenschaften, sind, getrennt von ihren Wurzeln in der Erde nicht vorstellbar, ja kaum ein Name. Die Erde ist die ursprüngliche Quelle aller Nahrung des Menschen. Sie bietet ihm fortdauernd Zuflucht und Schutz, sie bietet ihm das Rohmaterial zu all seinen Betätigungen und die Heimat, zu der all seine Humanisierungen und Idealisierungen und all seine Errungenschaften zurückkehren. Sie ist das große Feld, das große Bergwerk, die große Quelle der Kräfte von Wärme, Licht und Elektrizität; sie ist die ausgedehnte Szene von Ozeanen, Strömen, Bergen und Landflächen, von denen all unsere Landwirtschaft, unser Bergbau und unsere Bautätigkeit, all unser Handwerk und unsere Vertriebsunternehmen nur partielle Elemente und Faktoren sind. Nur durch Beschäftigungen, welche durch dieses Umfeld bestimmt wurden, trieb die Menschheit ihren historischen und politischen Prozeß voran. Durch solche Beschäftigungen entwickelte sie auch die intellektuelle und emotionale Interpretation der Natur. Durch das was wir in und mit der Welt tun, lesen wir ihre Bedeutung und schätzen wir ihren Wert.“
Dieser Text beschreibt eine Alternative zu den oben beschriebenen Tendenzen der westlichen Industrialisierung, eine Alternative, die die umfassende Bedeutung und den Wert der Natur für menschliches Leben in einfühlsamen Worten anerkennt. Dabei ist bemerkenswert, daß die von Dewey gewählte Betrachtungsweise den im 19. Jahrhundert begonnenen Prozeß der Industrialisierung ein- und nicht ausschließt. Doch wer würde bestreiten, daß sich das hier zu findende integrative westliche Denken, der hier von John Dewey beschriebene ökologische Humanismus einer nachhaltigen Verbundenheit von Mensch und Natur in den westlichen Gesellschaften in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht durchgesetzt hat. Man kann indes eine gewisse Nähe zu der von Daisaku Ikeda angedeuteten Naturauffassung erkennen.
Dieser Hinweis auf das Denken von John Dewey, vermag einer unangemessen Romantisierung „östlichen Denkens“ im Gegensatz zu „westlichem Denken“ den Wind aus dem Segel nehmen. Auch im Westen hat es früh integriertes ökologisches Denken gegeben. Und in diesem Sinne kann es im Folgenden nur um die Sache und nicht um eine künstliche Konstruktion „west-ost - ideologischer Gegensätze“ gehen.
Warum hat sich in Nordamerika und in Europa die partnerschaftliche Vorstellung des Verhältnisses von Mensch und Natur, also ein ökologischer Humanismus nicht oder etwas optimistischer formuliert erst so spät durchgesetzt? Dieser Frage versuchen heute ganze Bibliotheken auf den Grund zu gehen. Um hier im Thema zu bleiben, ist auf die buddhistische Perspektive einzugehen.
Buddhismus lehrt seit jeher, daß die Vorstellung der Heiligkeit allen Lebens, wie sie auch Nichiren Daishonins eingangs zitierten Worten zugrunde liegt, bei der überwiegenden Zahl der Menschen einer Gemeinschaft durch die sogenannten „drei Gifte“ Habgier, Ärger und Ignoranz verdunkelt wird.
In der modernen Gesellschaft spiegeln sich diese „drei Gifte“ in den gesellschaftlichen Phänomenen des Materialismus, des Konkurrenzdenkens und der verbreiteten Unwilligkeit, voreingenommene Standpunkte (Vorurteile) zu verlassen, also eines intellektuellen Egoismus. Da diese „drei Gifte“ dabei Elemente enthalten, die durch einige herrschende gesellschaftliche Wertvorstellungen und -haltungen nicht eingedämmt, sondern geradezu befördert werden (materiellen Konsum, Leistungsorientierung, Selbstdarstellung), kann man davon sprechen, daß in der zeitgenössischen Gesellschaft Bedingungen herrschen, die das Auftreten der „drei Gifte“ stärken, anstatt sie einzudämmen.
Das bisher gesagte im Auge behaltend, ist es interessant, daß Daisaku Ikeda, der die Lehren des Buddhismus in modernen Anschauungen und Vorstellungen lehrt, in Aurelio Peccei, einen seiner ersten europäischen Gesprächspartner gefunden hat. Daisaku Ikeda hat mit Aurelio Peccei ein Buch herausgegeben, das den Titel trägt „Noch ist es nicht zu spät“ (1984). Es beschäftigt sich in seinem ersten Abschnitt „Mensch und Natur“ ausführlich mit Fragen der Ökologie, Fragen denen Aurelio Peccei als Gründer des Club of Rome, in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens besonderes Augenmerk geschenkt hat. Das Buch stellt anschaulich eine ökologisch- humanistische Ansicht des Verhältnisses von „Mensch und Natur“ in den Beiträgen beider Autoren dar. Das in diesem Dialog erläuterte Verhältnis von Mensch und Natur ist der ökologische Humanismus des Buddhismus. Auf diese Quelle sei hier deshalb zu weiterem Studium verwiesen.
Der Hinweis auf die „drei Gifte“ und die Aufforderung zu weiterem eigeninitiativem Studium wird manchem Leser unangemessen erscheinen. Diese scheinbar karge Erläuterung kann und soll indes auch praktisch die Tatsache illustrieren, daß eine wie auch immer geartete „Umwelt- Politik“ alleine nicht ausreicht, um die durch die moderne Lebensweise entstandenen Probleme zu lösen. Es kommt auf die Erfahrungen und die Wahrnehmungen der Menschen - jedes einzelnen Menschen - an. Und so ist, gesellschaftlich gesehen, nur eine schrittweise Veränderung des Blickwinkels und eine schrittweise Öffnung von ökologischer Einsicht und ökologischem Handeln möglich, deren Träger immer einzelne Menschen sind.
Abschließend sei ein Satz von Daisaku Ikeda zitiert, der das Eingangszitat von Nichiren Daishonin inhaltlich reflektiert und der das Thema „Buddhismus und Ökologie“ in einer kurzen Erläuterung zusammenfasst:
„Der Buddhismus mißt dem Leben an sich hohen Wert bei, gleichgültig in welcher Gestalt es sich manifestiert.“
dj